Untermain aktuell 1/1987
Das Braunkehlchen stirbt an der Überproduktion
Vogel des Jahres 1987 - Landwirtschaftsministerium weist Vorwürfe gegen Agrarpolitik zurück
BONN, 29. Dezember (AP). Mit massiver Kritik an der europäischen Agrarpolitik hat der Deutsche Bund für Vogelschutz die Wahl des Braunkehlchens zum Vogel des Jahres 1987 verbunden. Das Braunkehlchen, ein in der Bundesrepublik stark bedrohter Wiesenbewohner, steht nach Ansicht der Naturschützer "stellvertretend" für den sich immer weiter verschärfenden Konflikt zwischen "Landwirtschaft und Naturschutz", teilte die Organisation in Bonn am Montag mit.
Das Braunkehlchen (Saxicola rubetra) ist ein in ganz Europa verbreiteter Sommervogel, der in Afrika überwintert. Es wird knapp 13 Zentimeter groß. An seiner Färbung fällt neben dem auffallenden Streifen über den Augen besonders die gelbe bis braune Kehle und Brust auf. Es lebt in sumpfigen Wiesen und Weiden mit hohem Staudenanteil und einzelnen Bäumen, in Heiden, Mooren und an Bahndämmen. Das Braunkehlchen ernährt sich von Insekten und Larven, Spinnen und kleinen Schnecken. Das Nest ist in der Regel am Boden unter hohem Gras und Pflanzen versteckt.
Das Leben vieler Braunkehlchen endet bereits, bevor sie das Licht der Welt erblickt haben: "Durch die starke Düngung der Wiesen wird der Heuschnitt heute schon zeitiger durchgeführt als früher. Dadurch werden viele Bruten des Braunkehlchens einfach weggemäht", hieß es in der Mitteilung des Bundes für Vogelschutz (DBV). Intensivere Nutzung des Bodens, stärkere Düngung und zunehmender Einsatz chemischer Gifte machten dem Vogel zu schaffen, dessen Bestand in der Bundesrepublik seit 1950 auf 25 Prozent geschrumpft sei.
Der DBV forderte mit der Wahl des Braunkehlchens zum Vogel des Jahres die Politiker in der Bundesrepublik und in Europa auf, endlich eine entschiedene Wende in der Agrarpolitik einzuleiten. "Nicht mehr die Produktion von ökonomisch und ökologisch schädlichen Überschüssen darf bezahlt werden, sondern die pflegliche und naturverträgliche Bewirtschaftung." Kleine und mittelständische Familienbetriebe böten beste Voraussetzungen für umweltschonende Wirtschaftsweise. Damit könnten auch aktuelle Einkommensprobleme der Landwirte gelöst werden.
Das Landwirtschaftsministerium in Bonn begrüßte zwar die Bemühungen um den Schutz des Braunkehlchens, wies aber die Kritik der Vogelschützer an der Agrarpolitik als "unsachliche Polemik" zurück. Das Ministerium wies auf das Wiesenbrüterprogramm, die Förderung des alternativen Pflanzenbaus, auf die angestrebte Flächenstillegung und Extensivierung der Produktion sowie auf die staatlich geförderten Ackerrandstreifenprogramme hin. Alle diese Maßnahmen, die auch dem Vogelschutz dienten, fehlten in dem Zerrbild der Landwirtschaftspolitik, das der Vogelschützbund zeichnet.
Frankfurter Rundschau 29.12.1986