Untermain aktuell 1/1995


Mit kleinen Kindern auf großer Fahrt


"Wenn einer eine Reise tut, dann gibt's was zu berichten. Und nicht nur wir wollen erzählen, auch andere wollen etwas wissen. So werden wir oft gefragt, wie wir es angestellt haben, daß unsere Kinder, inzwischen 14 und 11 Jahre alt, immer noch gerne mit den Eltern in den Urlaub fahren. In einem Brief an alle Miteltern habe ich versucht, diese Standardfrage an uns zu beantworten."
Gabi Eidam


Liebe Ornithologen, liebe Mütter und Väter!

Es ist Jahre her, da meinte auf Runde in Norwegen eine andere Urlauberin fast schon entsetzt zu mir: "Und da fahrt Ihr so weit?"
Sie selbst hatte ein goldiges, braves Kind von etwa zwei Jahren dabei, das abends ganz brav um sieben im Bett lag und bis zum Morgen durchschlief. Tagsüber saß es brav in seinem Kinderstühlchen, nuckelte brav an seinen Butterkeksen und war ein reiner Quell der Freude. (Damals war ich, das muß ich gestehen, richtig eifersüchtig; inzwischen weiß ich aus Erfahrung, daß dieses Kind heute vermutlich nicht mehr nur ein Sonnenschein ist.)

Nun, die verständnislose Frage auf Runde vor 13 Jahren bezog sich auf einen sehr aktiven Philipp, der tagsüber selten mehr als 20 Minuten am Stück ruhig war, nachts nie durchschlief, sondern sich mehrmals versicherte, ob auch alle noch da waren. Mit seinen zehn Monaten dachte er gar nicht daran, sich in ein Kinderstühlchen zu setzen. Er lief in alle Himmelsrichtungen und befühlte und kostete alle Gegenstände. Was sich nicht aufheben und in den Mund schieben ließ (wie etwa Schafsknöddel), wurde zumindest angeleckt. Philipp lutschte an Fensterscheiben und an Felsen, er probierte den Unterschied zwischen Meer- und anderem Wasser, und er kaute auf Tang. Am interessantesten war jedoch alles, was sich bewegte, wenn es dann auch noch vor ihm davonlief, waren die nächsten Minuten oder auch Stunden gerettet.

Hatten sich morgens all die Ornithologen mit Ferngläsern, Fotoapparaten, Spektiven und Rucksäcken auf den Weg gemacht und die zurückgebliebenen Hausfrauen sich ihrem Putztrieb gewidmet, brach auch ich mit Philipp zu einem Erkundungsgang auf. Oft kamen wir dabei aber kaum vom Campingplatz. So lag mein Sohn einmal zwei Stunden auf dem Bauch vor einer Ameisenstraße und verfolgte mit den Fingerchen die kleinen Tiere (natürlich erst, nachdem er sie gekostet hatte). Ein anderes Mal versuchte er Stunde um Stunde, einen Fisch zu angeln, weil er am Vortag größere Jungs beim Angeln beobachtet hatte. Ihm genügte dazu damals eine Schnur, an deren Ende ich einen Stein gebunden hatte.

Philipp und ich hatten viele solche Erlebnisse. Viele Jahre lang habe ich auf größeren Wanderungen und lange Vogelbeobachtungen verzichtet, was ich keineswegs bereue: Wann nimmt man sich sonst schon mal' die Zeit, eine Ameisenstraße so gründlich anzuschauen! Keine dieser Minuten oder Stunden, so anstrengend sie auch waren, möchte ich missen.

Als Philipp erstmals auch Vögeln Beachtung schenkte, ging wieder eine (fast) "kulinarische" Erfahrung voraus. Zuvor hatte er das Haupthobby seines Vaters als völlig belanglos abgetan; wir dachten, daß dies eine natürliche Reaktion der Distanzierung von den Eltern sei, oder daß wir ihn zu intensiv mit den gefiederten Freunden konfrontiert hatten. Da stellte sich dann jedoch heraus, daß er die fliegenden Geschöpfe abgehakt hatte, weil sie für ihn damals einfach viel zu schnell waren. Als Philipp aber einen frisch geschlüpften Austernfischer in die Hand nehmen durfte, und wir ihn nur mit Mühe am Verschlingen hindern konnten, waren für ihn auch die Vögel interessant geworden.

Kind Nr. 1 hatten wir damit erfolgreich der Natur auf die Spur gesetzt. Jetzt hätte ich eigentlich Fläschchen und Schnuller wieder gegen das Fernglas tauschen können, doch da kündigte sich "Paul" in Norwegen an. Na, wenn das kein Zeichen war. - "Paul" wurde unsere Silvija, ebenfalls ein sehr neugieriges und aktives Kind.

Ihr Schlafverhalten war wesentlich besser als das ihres Bruders - dafür vertrug sie aber Autofahren überhaupt nicht! Und das mußte uns passieren, die wir in jedem Frühjahr nach Andalusien und in jedem Sommer nach Nordnorwegen unterwegs sind. Manchmal waren wir noch gar nicht auf der Autobahn, da schrie sie schon: "Schüssel, muß spucken!"

Eines war für uns nie eine Frage: Auf den Urlaub in der Natur konnten und wollten wir nicht verzichten. Schließlich wohnen wir mitten in der Großstadt und den Kindern sollten der Umgang mit der Natur und die vielfältigen Erfahrungen in ihr nicht entgehen. Wenn wir also weiterhin jährlich Tausende von Kilometern durch Europa fahren wollten, ohne stapelweise Bettwäsche mitzuschleppen oder jeden zweiten Tag einen Waschtag einzulegen, mußten wir uns etwas einfallen lassen.

Die Lösung war ganz einfach und nur für uns Erwachsene anstrengend: Wir fuhren oft nachts und zu den Zeiten, in denen kleinere Kinder schlafen. Nach dem Frühstück spielten die beiden Lieblinge, bis der erste Schlaf angesagt war. Dann ging's im Wagen weiter, bis Silvija aufwachte, was bei ihr glücklicherweise oft zwei Stunden dauerte. Nach einer Pause konnten wir dann manchmal gleich weiterfahren, es kam aber auch vor, daß wir bis zum Abend warten mußten. Immerhin kam Silvija uns in dieser Angelegenheit entgegen - sie geht sehr früh schlafen. (An ihrem 5. Geburtstag verabschiedete sie sich von ihren Gästen und ging ins Bett, obwohl die Feier noch eine Stunde weiterging!)

Lange Zeit konnte bei den Urlaubsreisen nur einer von uns Vögel beobachten; der andere mußte vorlesen oder mit Barbie-Puppen spielen. Ich erinnere mich an Videoaufnahmen von seltenen Vögeln, bei denen im Hintergrund Kinderhörspielkassetten zu vernehmen sind: "TKKG" , "Die drei ???" , "Bibi Blocksberg" usw.. Einige Aufnahmen sind wegen der Kinder überhaupt nicht zustande gekommen oder total verwackelt - es gibt eben Augenblicke, in denen nichts anderes hilft als Auslauf bis zur Erschöpfung. Die gefiederten Freunde können das ja bekanntlich gar nicht leiden.

Auch unsere Such-Rundreisen haben wir fast gänzlich gestrichen. Sind wir früher noch meilenweit gefahren, um einen bestimmten Vogel zu sehen, halten wir uns heute eher an die Erfahrung, daß in manchen Gegenden sowieso alles vorbeikommt, wenn man etwas Geduld hat.

Unsere Kinder mögen es, wenn sie sich schon vorher auf das nächste Ziel einstellen können. Es gibt richtige Insider-Beschreibungen für verschiedene Plätze: "Ist das da, wo ich den toten Delphin am Strand gefunden habe?" oder "Ach ja, da hat der Papa doch unter dem Blech die tote Schlange entdeckt und sich fürchterlich erschreckt, stimmt's?" Nach der Ankunft wird gleich kontrolliert, ob alles noch da ist.

Der Ornithologe sucht mit dem Fernglas die Hecken ab, der Sohn dreht alle Steine und Bleche um wegen der Eidechsen, Schlangen und Ameisen, die Tochter streift durchs Gebüsch und sucht Chamäleons und all die kleinen Baby-Kätzchen, und ich kann in Ruhe ein Buch lesen. Wie groß ist dann die Freude, wenn tatsächlich noch etwas am selben Platz ist wie im vergangenen Jahr.

Heute sind unsere Kinder 14 und 11 Jahre alt. Wenn man sie fragt, ob sie nicht mal in ein Sportcamp fahren oder nur mit gleichaltrigen Ferien machen möchten, sind sie entsetzt und halten uns für Rabeneltern. Liebend gerne fahren sie mit uns, und wenn wir den Campingbus packen, sitzen beide lange vor der Abfahrt mit Stapeln von Comics, mit Walkman, Kassetten und Schmusetieren im Wagen und warten darauf, daß es losgeht.

In unseren Augen ist das ein Erfolg: Offenbar sind die Kinder mit unserer Art, Urlaub zu machen, sehr zufrieden, und uns macht es immer noch viel Spaß, mit den kleinen Monstern auf Tour zu sein und zu beobachten, wie sie sich mausern.

Gabi Eidam